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So schreibst du eine Fallstudie – Eine Schritt-für-Schritt-Anleitung

Teil 5 der Serie zur evidenzbasierten Praxis

 

Fallstudien sind ein kraftvolles Werkzeug, die den Leser:innen Einblicke in therapeutische Prozesse und wertvolle Erkenntnisse für die Praxis geben können. Eine gut dokumentierte Einzelfallstudie kann nicht nur Kolleg:innen inspirieren, sondern auch das Verständnis für unseren ASI-Therapieansatz erweitern. Aber wie schreibt man eine Fallstudie, die den heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen und den kritischen Blicken der Kollegenschaft standhält und wirklich Wert liefert?

 

In diesem Beitrag gehen wir Schritt für Schritt durch den Prozess der Erstellung einer Fallstudie – von der Auswahl des Falls bis zur Veröffentlichung. Um die Schritte anschaulich zu machen, setzen wir sie anhand von Lena um, einem fünfjährigen Mädchen mit sensorischer Überempfindlichkeit, das Schwierigkeiten hat, in Gruppenaktivitäten im Kindergarten zu partizipieren.


 

Schritt 1: Wähle einen passenden Fall

Nicht jeder Fall eignet sich für eine Veröffentlichung. Wähle einen Fall, der besonders lehrreich, gut dokumentierbar und ethisch vertretbar ist. Es ist auch nicht sinnvoll, einen besonders komplexen Fall zu nehmen, sondern wähle eine klare, gut nachvollziehbare Geschichte.

 

Kriterien für eine gute Fallstudie:

  • Der Fall repräsentiert eine typische oder besonders interessante klinische Herausforderung.

  • Die Intervention ist klar definiert und systematisch dokumentiert.

  • Es gibt eine erkennbare Veränderung, die durch die Intervention beeinflusst wurde.

  • Die Einwilligung der Familie oder Klient:in zur anonymisierten Veröffentlichung liegt vor.

 

Unser Fall: Lena ist ein kluges, freundliches, liebevolles und interessiertes Mädchen. Im familiären Umfeld fällt sie bis auf eingeschränktes Essverhalten und bestimmte Rituale bezüglich Kleidung und Körperpflege nicht weiters auf. Sie zeichnet gut und hört gern Hörbücher. Den Kindergarten würde sie lieber nicht besuchen, obwohl sie sich auf ihre Freundin Carla freut. Sie hat große Schwierigkeiten, sich an Gruppenaktivitäten zu beteiligen und hält sich die meiste Zeit alleine oder gemeinsam mit Carla abseits auf. Sie meidet enge soziale Interaktionen, hält sich die Ohren zu, wenn es laut wird, und kann ihre Aufmerksamkeit nicht lange auf eine Aufgabe richten. Die Eltern berichten, dass sie auch im Alltag sehr empfindlich auf  Berührungen  und Geräusche reagiert. Sie haben sich auf Empfehlung der Kinderärztin für eine Ergotherapie nach ASI-Ansatz entschieden.

 


 

Schritt 2: Definiere die Fragestellung

Eine gute Fallstudie hat eine klare Forschungsfrage. Diese Frage bestimmt, welche Aspekte des Falls besonders hervorgehoben werden.

 

Beispiele für Forschungsfragen:

  • Wie beeinflusst die Sensorische Integrationstherapie (ET-ASI®) die soziale Partizipation eines Kindes mit taktiler und auditiver  Überempfindlichkeit?

  • Kann eine gezielte sensorisch-integrative Ergotherapie helfen, Gruppenaktivitäten im Kindergarten besser bewältigbar zu machen?

Unsere Forschungsfrage: Wie wirkt sich die Sensorische Integrationstherapie (ET-ASI®) auf die und sensorische Toleranz und die soziale Partizipation bei Lena aus?


 

Schritt 3: Beschreibe den Ausgangsbefund

Beschreibe den Status des Kindes zu Beginn der Therapie anhand objektiver Daten.

Elemente einer fundierten Befunderhebung:

  • Wahrnehmungsfragebogen, z.B. Fragebogen zur Wahrnehmungsentwicklung der GSIÖ - WN-FBG oder  Sensory Processing Measure – SPM-2 für die passende Altersgruppe

  • Systematische Beobachtung im Therapieraum und nach Möglichkeit im natürlichen Umfeld (zu Hause oder in Kindergarten/Schule)

  • Standardisierte Tests, z.B. Evaluation in Ayres Sensory Integration – EASI

Lenas Ausgangsbefund:

  • Der WN-FBG zeigte deutliche Hinweise auf Überempfindlichkeiten im taktilen, auditiven und Geruchssinn.

  • Die direkte Beobachtung bestätigte dies und zeigte Lenas Vermeidungsstrategien, z.B. wenn ihr das Spiel mit diffusen taktilen  Materialien wie Schaum und die Exploration einer "taktilen Kiste", die Felle, Tüll und wabbelige Gummitiere enthielt, angeboten wurde.

  • Die Ergebnisse des EASI zeigten deutliche sensorische Überempfindlichkeiten (SR) und zugleich Schwächen der taktilen Perzeption und der Ideation.

  • Im Bericht konnten klare Zusammenhänge zwischen Lenas Auffälligkeiten im Alltag und ihren sensorischen Verarbeitungsstörungen hergestellt werden. 
  • Mit den Eltern wurde zu Beginn der Therapie das Canadian Occupational Performance Measure (COPM) durchgeführt, in dem sie die momentane Leistung und ihre Zufriedenheit damit angaben.
  • Als distales Ziel wurde die Teilnahme an einer Gruppenaktivität am Tag nach einer verbalen Aufforderung and 4/5 Tagen einer Woche festgesetzt.

 

Schritt 4: Beschreibe die Intervention

Eine Fallstudie muss genau schildern, welche therapeutischen Maßnahmen durchgeführt wurden. Dies ermöglicht anderen Therapeut:innen, die Methode nachzuvollziehen oder anzuwenden.

 

Elemente einer klaren Interventionsbeschreibung:

  • Dauer und Häufigkeit der Therapie (z. B. zweimal wöchentlich 45 Minuten über drei Monate)

  • Nennung der Kernmerkmale von ASI, die im ASI Fidelity Measure beschrieben sind, und ihre konkrete Umsetzung. Z.B. die eingesetzten Techniken/Maßnahmen wie Aktivitäten, die verstärkte Propriozeption bieten, genau richtige Herausforderung, Strategien oder Hilfsmittel zur Kompensation

  •  maßgeschneiderte Anpassung an die  Bedürfnisse des Kindes, sodass eine individualisierte Präzisionstherapie geboten wird.

Lenas Therapieplan:

  • 2x wöchentlich Ergotherapie nach dem ASI-Ansatz für 30 Einheiten über 3 Monate

  • Umsetzung der Kernmerkmale von ASI:  die Therapeutin wurde zu Lenas Verbündeter, die auf ihre Sicherheit achtete und sie zugleich unterstützte und herausforderte. Sie bot multisensorische Angebote von verstärktem propriozeptiven und vestibulären Input und stellte Herausforderungen an Lenas Ideation und soziale Interaktion mit einem anderen Therapiekind. Die Therapieaktivitäten waren von Lena gewählt und von der Therapeutin angepasst, sodass sie ein optimales Erregungsniveau durch hemmende Strategien unterstützten und genau richtige Herausforderungen boten. Die Therapeutin gestaltete die Aktivitäten spielerisch, um Lenas intrinsische Motivation zu nutzen. Sie achtete darauf, dass Lena sich als kompetent und in Kontrolle erlebte und viele Erfahrungen von "Das habe ich geschafft!" erlebte.

  • Übergänge zwischen Aktivitäten wurden gut strukturiert, um Stress zu reduzieren.

  • Durch das parallele Behandlungssetting war eine schrittweise Herausforderung der sozialen Interaktion gut möglich. Die Umgebung wurde dabei sensorisch angepasst (z.B. gedämpfte Geräusche, regulierende Strategien, Rückzugsmöglichkeit).


 

Schritt 5: Dokumentiere die Veränderungen

Erfasse die Fortschritte objektiv und subjektiv. Welche Veränderungen sind erkennbar?

 

Möglichkeiten zur Erfolgsmessung:

  • Überprüfung des distalen Therapieziels.

  • Durchführung des COPM und Vergleich der Werte (Zunahme von 2 Punkten ist eine signifikante Veränderung)

  • Retestung der Reaktivitätstest des EASI

  • Rückmeldung von den Eltern und Pädagog:innen

Lenas Fortschritte:

  • Überprüfung des distalen Therapieziels nach 16 Wochen (30 Therapieeinheiten): Die Pädagogin erhob über eine Woche Lenas Teilnahme an Gruppenaktivitäten. Lena hatte ihr Therapieziel erreicht. Sie nahm teilweise ohne Aufforderung freiwillig an  Gruppenaktivitäten teil.

  • Die Wiederholung des COPM mit der Mutter ergab Veränderungen von 3 Punkten in Lenas Leistung und 4 Punkten in der Zufriedenheit damit.

  • Die Retestung der Reaktivitätstest des EASI ergab weiterhin Überempfindlichkeiten, jedoch hatten sie sich von "störungswertig" auf "Schwäche" reduziert.

  • Die Eltern berichten, dass sie zu Hause entspannter auf Geräusche reagiert.


 

Schritt 6: Interpretiere die Ergebnisse

Hier wird die Veränderung des Kindes mit Blick auf die Forschungsfrage diskutiert. Hat die Intervention das gewünschte Ziel erreicht? Falls nicht, welche Faktoren könnten eine Rolle gespielt haben?

 

Lenas Fall zeigt:

  • Die individuell zugeschnittene Ergotherapie nach ASI-Ansatz hat Lenas sensorische Toleranz erhöht und ihre Regulation verbessert, wodurch sich generell ihre Vermeidungstendenz reduziert hatte.

  • Die Eltern bestätigten eine Verbesserung im Alltag, was auf eine Generalisierung der Therapieeffekte hindeutet.


 

Schritt 7: Verfasse die Fallstudie nach wissenschaftlichem Standard

 

Typische Struktur einer Fallstudie:

  1. Einleitung (Hintergrund, warum der Fall wichtig ist)

  2. Fragestellung (Welche Frage soll beantwortet werden?)

  3. Methodik (Wie wurde der Fall untersucht? Welche Tests wurden genutzt?)

  4. Beschreibung des Falls (Befund, Therapieansatz, Fortschritte)

  5. Diskussion (Interpretation der Ergebnisse, Limitationen, Bedeutung für die Praxis)

  6. Schlussfolgerungen (Welche Erkenntnisse lassen sich daraus gewinnen?)


 

Schritt 8: Überlege, wo du deine Fallstudie veröffentlichen kannst

Optionen für Veröffentlichungen:

  • Fachzeitschrift, z.B. des österreichischen oder deutschen Ergotherapieverbandes 

  • GSIÖ Newsletter (eNews)

  • Präsentation auf der Fachtagung von Ergotherapie Austria oder dem DVE Kongress

  • Veröffentlichung innerhalb deines Netzwerks


 

Fazit

Eine Fallstudie zu schreiben ist ein wertvoller Beitrag zur Ergotherapie, der helfen kann, Wissen zu teilen und die evidenzbasierte Praxis zu fördern. Mit einer klaren Struktur und systematischer Dokumentation kannst du wertvolle Erkenntnisse aus deiner Arbeit festhalten und mit anderen Therapeut:innen teilen.

 

Wähle einen interessanten Fall aus deiner Praxis und beginne mit einer ersten strukturierten Dokumentation. Vielleicht ist das der erste Schritt zu deiner eigenen Fallstudie! Jeder Beitrag zählt, um die Qualität der Ergotherapie weiterzuentwickeln.

 

Tipp

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