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Starte mit dem "Warum"! Verhalten richtig interpretieren

Alle Kinder verhalten sich manchmal auffällig, manchmal herausfordernd, manchmal unerwartet. Dieses Verhalten ist nie grundlos. Wenn es nur gelegentlich vorkommt, erkennen die Erwachsenen vielleicht das "Warum" des Verhaltens. Wenn es aber ständig vorkommt, wird das Kind leicht als "ungezogen", "oppositionell" oder "aggressiv" abgestempelt, ohne dass noch näher nach dem "Warum" gesucht wird. 

 

Wenn wir Ayres' SI-Philosophie leben wollen, dann muss es für Pädagog:innen, Eltern und Therapeut:innen eine feste Gewohnheit werden, Verhalten nicht zu bewerten, sondern immer zu hinterfragen. "Warum verweigert das Kind diese Aktivität?" "Warum hat das Kind gestoßen?" "Warum weint das Kind (heute) so viel?" Wenn wir uns ernsthaft auf die Suche nach möglichen Ursachen machen, werden wir Ursachen finden, an denen wir ansetzen können:

Könnten psychischen Gründe wie Stress, Angst oder Minderwertigkeitsgefühl das Verhalten auslösen?

Gibt es Umweltfaktoren, die das Verhalten beeinflussen? Etwa Probleme mit einem anderen Kind (bis zu Bullying), zu wenig Bewegung oder viel zu viel Programm, Leben in beengten Verhältnissen, anderer kulturelle Erfahrungen etc?

Oder könnte das Gehirn des Kindes Schwierigkeiten haben, Sinnesinformationen richtig zu verarbeiten, sodass es manches gar nicht registriert oder aber sehr empfindlich ist und leicht in einen Alarmzustand kommt?

Während die ersten beiden Erklärungen für das auffällige Verhalten durchaus zutreffen können, wollen wir uns hier auf die dritte Erklärung konzentrieren. Sie trifft nämlich auf 6–15 % der Kinder zu. In einer Gruppe von 20 Kindern sind also mit großer Wahrscheinlichkeit 2-3 betroffene Kinder. Ihr Gehirn

erhält entweder nicht genug Sinnesinformationen (Unterempfindlichkeit),

kann diese nicht gut analysieren und für geordnetes Verhalten nutzen (Perzeptionsstörung, hat oft Dyspraxie zur Folge), oder

wird von Sinnesreizen geradezu überflutet (Überempfindlichkeit).

 

Um Verhaltensauffälligkeiten richtig zu interpretieren, dürfen wir also keinesfalls vergessen, unsere sensorische Brille aufzusetzen und statt direkt auf das Verhalten zu reagieren (außer es geht um Sicherheit), immer zunächst sensorische Ursachen in Erwägung ziehen.

 

Wenn wir eine Hypothese über den Auslöser des Verhaltens haben, können wir nun an der Ursache ansetzen, das Kind zu unterstützen. Oft ist ein Gespräch mit den Eltern notwendig. Manchmal muss eine Psycholog:in hinzugezogen werden oder eine medizinische Abklärung (z.B. ein Hörtest) empfohlen werden. Was können Nur so können wir Kinder gezielt unterstützen.

 

 

Das getriebene Kind

Ein Kind, das ständig in Bewegung ist, immer irgendwo anstößt oder impulsiv jede Gelegenheit nutzt, um zu klettern, hängen oder springen, sucht oft unbewusst nach intensiven Sinnesreizen – nach Bewegung, Berührung oder Krafteinsatz. Statt diese Impulse zu unterdrücken oder zu bestrafen, sollten wir Wege finden, sie in eine gesunde, geordnete Form zu bringen:

 

✅ Baue intensive Sinneserfahrungen in den Alltag ein; das ist am besten auf einem Spielplatz möglich. Aber Hüpfen auf einer Hüpfmatratze oder Hängen an einem Türreck können den Sinneshunger schon gut stillen. 

✅ Biete diesem Kind bewusst keine Sitzspiele an, sondern Spiele und Aufgaben, bei denen es sich verstärkte Gleichgewichtsreize, Berührungen oder Krafteinsatz holen kann. Schnell wohin zu rennen oder auf dem Hüpfball zu hüpfen, Teig zu kneten oder die Spielsachen von Sand oder Ton zu reinigen, oder schwere Dinge zu bewegen sind genau die Dinge, die dieses Kind sucht. 

✅ Sorge für strukturierte, aber herausfordernde Möglichkeiten, sich diese Sinnesreize zu verschaffen. "Austoben" erfüllt diesen Zweck nicht. Vielmehr braucht es einen Rahmen, einen Zweck und ein Ziel. So bekommt das Kind genau das, was sein Nervensystem braucht!

 

 

Das ungeschickte, schnell frustrierte Kind

Ein Kind, das nicht weiß, was es tun soll, nur kurz bei einer Sache bleibt, schnell aufgibt oder Vergleiche mit Gleichaltrigen meidet, hat vermutlich Schwierigkeiten, Sinnesinformationen exakt zu verarbeiten und in zweckmäßiges Handeln umzusetzen. Statt das Kind unter Druck zu setzen, können wir es durch folgende Maßnahmen stärken:

 

✅ Vermeide Vergleiche mit anderen Kindern – das setzt es nur weiter unter Stress. Lass es ruhig mit den jüngeren Kindern spielen, wenn es das bevorzugt. Dort stärkt es als "der/die Große" sein Selbstbewusstsein und seine sozialen Fähigkeiten, indem es helfen, vorzeigen und erklären kann.

✅ Biete vielfältige Sinneserfahrungen für den Gleichgewichts-, Kraft- und Berührungssinn mit dem ganzen Körper an. In Laub oder Kastanien zu baden oder sich durch Polsterberge durchzuarbeiten, um einen Schatz zu finden regt die Sinnesverarbeitung an. 

✅ Unterstütze das Kind genau so viel, dass es Erfolgserlebnisse hat. So helfen wir dem Kind, Vertrauen in seine Fähigkeiten zu entwickeln.

✅ Fokussiere dich nicht auf die Schwächen des Kindes, sondern betone seine Stärken und Interessen und mache sie sichtbar!

 

 

Das überempfindliche Kind

Manche Kinder sind empfindlicher als die meisten von uns und reagieren extrem empfindlich auf Berührung, Geräusche, Licht oder Gerüche. Sie verweigern bestimmte Kleidung, meiden laute Räume oder reagieren mit Angst auf scheinbar harmlose Reize. Das alles ist kein Verhaltensproblem, kein erlerntes Verhalten oder Ausdruck von Opposition, sondern die Alarmreaktion eines sehr sensiblen  Gehirns mit wenig Filter auf die einprasselnde sensorische Umwelt. Diese Kinder brauchen vor allem eines: Verständnis und Respekt für ihre Wahrnehmung.

 

✅ Akzeptiere die Abneigungen und Ängste des Kindes und übe weder Druck noch Zwang aus. 

✅ Schaffe einen reizarmen Rückzugsort, den das Kind jederzeit nutzen kann.

✅ Biete Reize auf eine vorhersehbare, kontrollierte Art an. Berühre es z.B. nur von vorne und kündige laute Geräusche an.  

Diese Kinder müssen nicht "abhärten", sondern möglichst viel Zeit in einem entspannten, sicheren Zustand verbringen. Ein respektvoller Umgang mit ihren Bedürfnissen hilft ihnen, sich sicher zu fühlen und besser mit ihrer Wahrnehmung umzugehen.

 

 

Fazit: Erst analysieren, dann reagieren

Verhalten ist immer der Ausdruck von unsichtbaren Prozessen im Gehirn und hat bestimmte Ursachen. Bevor wir es bewerten oder gar bestrafen, sollten wir innehalten und nach der Ursache suchen. Mit unserer sensorischen Brille erkennen wir, was das Kind wirklich braucht – und können es bewusst unterstützen. So wird aus „auffälligem Verhalten“ ein Ansatzpunkt zur Förderung.