· 

Wenn die Welt zu viel wird: Sensorische Überempfindlichkeiten verstehen

Sensorische Überempfindlichkeiten sind reale, belastende Phänomene für betroffene Kinder und ihre Familien. Sie brauchen keine Strafen oder Durchhalteparolen, sondern Verständnis, Unterstützung und fachgerechte Therapie. Wenn wir von sensorischen Integrations- oder Verarbeitungsstörungen sprechen, sagt das eigentlich wenig aus. Denn dahinter verbergen sich ganz unterschiedliche Phänomene, die sich ebenso unterschiedlich zeigen, erleben und therapeutisch begleiten lassen. Ein Kind, das ständig in Bewegung ist und sich nicht konzentrieren kann, braucht eine andere Herangehensweise als ein Kind, das weinend zusammenbricht, weil es versehentlich mit Wasser angespritzt wurde.

 

 

Arten von sensorischen Überempfindlichkeiten

Eine der häufigsten und auffälligsten Formen sensorischer Verarbeitungsstörungen sind sensorische Überempfindlichkeiten – also die übersteigerte Reaktion auf Reize, die andere kaum wahrnehmen. Die häufigste Ausprägung davon ist ein Störungsbild, das Dr Ayres als taktile Abwehr bezeichnete. Sie definierte das Störungsbild als Kombination von Überempfindlichkeit auf diffuse Berührungen, Ablenkbarkeit und Hyperaktivität.

 

Kinder mit taktiler Abwehr reagieren mit Rückzug, Abwehr, Ärger oder Fluchtverhalten.auf leichte, unerwartete Berührungsreize flüchtiges Anstreifen, zärtliche Berührungen, Berührung durch Kleidung, Gedränge und sogar Wind. Ihr Nervensystem interpretiert diese harmlosen Reize als Bedrohung und löst entsprechende Reaktionen aus.

 

Aber auch in anderen Sinnessystemen fand Dr Ayres bereits vor 50 Jahren Überempfindlichkeiten, z.B. im Gleichgewichtssinn (vestibulär): eine Form vestibulärer Überempfindlichkeit ist die sogenannte Schwerkraftunsicherheit. Das ist eine seltene, aber tief verunsichernde Reaktion auf Bewegungen des Kopfes aus seiner normalen Position zur Schwerkraft (also vertikal). Das Kind hat bei kleinsten Kopfbewegungen das Gefühl, den Halt zu verlieren. Es wird sich daher wenig, vorsichtig und eher steif bewegen. Wenig bekannt ist eine andere Form der vestibulären Überempfindlichkeit,  die Bewegungsintoleranz: Schon moderate Drehbewegungen oder Autofahrten in der Stadt lösen körperliches Unwohlsein bis zum Erbrechen aus.

Überempfindlichkeiten in den Fernsinnen führen zu Filterproblemen, Ablenkbarkeit und Überreaktionen wie Panik bei lauten Geräuschen, Schindel bei visuellen Eindrücken oder Übelkeit bei Gerüchen. 

 

 

Die kumulative Wirkung: Warum es irgendwann „zu viel“ ist

Ein Kind kann nach einer guten Nacht am Beginn des Tages durchaus Reize tolerieren und integrieren. Doch mit jeder neuen Herausforderung wird ein Stückchen mehr Hemmungsfähigkeit aufgebraucht. Das Kind ist konstant damit beschäftigt, Reize zu unterdrücken und auszublenden, die andere kaum wahrnehmen. Diese kumulative Belastung ist anstrengend. Und schließlich bringt ein kleiner Anlass das Fass zum Überlaufen. Das zeigt sich typischerweise in Form von „Ausrastern“ am Ende des Vormittags oder am späten Nachmittag: Die Reizverarbeitungskapazität ist erschöpft.

 

 

Reizüberflutung – mehr als ein Wutanfall

Was dann folgt, ist nicht oppositionelles Verhalten, Trotz oder gar bewusste Absicht, sondern ein neurophysiologisches Phänomen: Reizüberflutung. Das Gehirn wird überflutet und desorganisiert – das gesamte Nervensystem bricht kurzzeitig zusammen.

Das äußert sich oft wie ein Wutanfall: Schreien, Weinen, sich winden, auf den Boden werfen, davonlaufen oder vergraben. Das Gehirn signalisiert damit: „Ich kann nicht mehr – alles ist zu viel.“

 

 

Hilfe durch Ergotherapie nach ASI-Ansatz (ET-ASI®)

Jedes Kind mit sensorischer Überempfindlichkeit braucht fachgerechte, professionelle Unterstützung durch , der/die das Verhalten richtig interpretieren kann, die Eltern aufklären kann und den effektiven Therapieansatz der ET-ASI® kennt und umsetzen kann. Wichtig ist:

 

➡️ Ergotherapie ist nicht gleich Ergotherapie! Eltern sollten gezielt eine:n Ergotherapeut:in suchen, die auf Ayres Sensorische Integration (ASI®) spezialisiert ist – also eine:n ASI®Practitioner ist - denn nur dort werden sensorische Überempfindlichkeiten differenziert erfasst und methodentreu behandelt. Eltern, fragt nach der Qualifikation der Therapeut:in!

 

➡️ Der erste Schritt muss immer eine umfassende sensorisch-integrative Befundung sein. Auch wenn die Überempfindlichkeit offensichtlich ist, dürfen Verarbeitungsstörungen in anderen Bereichen nicht übersehen werden. Wir wollen das ganze Kind mit seinen Stärken und Schwächen erfassen. Der goldene Standard ist die Befunderhebung mit dem EASI (Evaluation in Ayres Sensory Integration). Eltern, fragt nach dieser Befunderhebung! Sie ist die Grundlage für eine zielgerichteten Therapieansatz.

 

➡️ Aufklärung der Eltern. Steht die sensorisch-integrative Diagnose fest, muss eine Befundbesprechung stattfinden, in der die Therapeut:in die Eltern alltagsbezogen aufklärt. Ein "Reframing" des kindlichen Verhaltens findet statt. Die Eltern müssen verstehen, 

warum das Kind diese Reaktionen zeigt und wie sie im Alltag eine sinnesfreundliche Umgebung schaffen können.

 

➡️ Die direkte ergotherapeutische Behandlung nach ASI-Ansatz wirkt tief im Nervensystem. Die therapeutischen Aktivitäten zielen darauf ab, die  hemmenden Mechanismen im Gehirn zu stärken und dadurch eine bessere Regulation zu erreichen. Das geschieht nicht durch passive Techniken oder Übungen, sondern durch eigenaktive, spielerische Aktivitäten, in die anfangs möglicherweise gar keine herausfordernden Reize eingebaut sind. Die Therapeut:in ist sehr respektvoll dem Kind und seinen Abneigungen und Ängsten gegenüber. Sie macht keinen Druck - im Gegenteil, die Überempfindlichkeiten scheinen in der Therapie keine Rolle zu spielen. Nie wird sie sagen: "Das ist doch nicht schlimm." oder "Jetzt probier einmal." Sie gibt dem Kind Zeit, sich in seinem eigenen Tempo an die Herausforderungen anzunähern, ohne es überreden zu wollen oder es zu pushen.

 

Das Ergebnis?

  • Weniger Zusammenbrüche, dafür mehr Zuwendung und Interesse des Kindes an den herausfordernden Reizen
  • Mehr Aufmerksamkeit
  • Bessere Verhaltensorganisation
  • Innere Ausgeglichenheit
  • Und vor allem mehr Lebensfreude – weil sich das Kind endlich „wohl in seiner Haut“ fühlt.