Die klinischen Beobachtung, die Dr Ayres in ihrer "blauen Bibel", dem Lehrbuch zu SI "Sensorische Integration & Lernstörungen" beschrieben hat, sind ein unverzichtbares Werkzeug bei der ergotherapeutischen Befundung aus SI-Perspektive. Wohlgemerkt, Dr Ayres hat sie als Ergänzung zu ihren standardisierten Testverfahren - ursprünglich SCSIT, dann SIPT - entwickelt.
Was macht denn den Unterschied zwischen den klinischen Beobachtungen und diesen Tests aus?
Klinische Intuition ist wertvoll, aber sie reicht nicht aus. Wer in der ergotherapeutischen Arbeit mit Kindern auf Ayres Sensory Integration® (ASI) setzt, weiß, wie bedeutsam Beobachtungen im Praxisalltag sind. Doch die Wissenschaft zeigt uns deutlich: Für einen fundierten, verlässlichen Befund braucht es mehr als das geschulte Auge. Es braucht systematische Messung, präzise Instrumente und eine evidenzbasierte Herangehensweise.
Klinische Beobachtungen sind subjektiv
In der Anfangszeit nutzte Ayres auch nicht-standardisierte Verfahren, um etwa taktile Abwehr oder Streckung gegen die Schwerkraft zu beurteilen. Doch sie erkannte schnell: Ohne verlässliche Messungen bleiben viele Beobachtungen vage oder schwer fassbar. Die Nachteile von Beobachtungen, auch wenn sie systematisch sind, sind:
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Subjektiv – geprägt von Erfahrung, Erwartung und Interpretation der Therapeut:in.
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Nicht vergleichbar – ohne Standardisierung und Normierung fehlen objektive Vergleichswerte.
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Nicht objektiv – zwei Beobachter:innen können zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen.
Für komplexe Phänomene wie sensorische Über- und Unterempfindlichkeiten, visuo- oder somatodyspraxische Muster braucht es aber eine objektive Datengrundlage, um gültige Schlüsse ziehen zu können.
Stichhaltige Datenerhebung mit objektiven Messverfahren
Möglichst objektive Datenerhebung war immer ein Kernstück der SI. Dr Ayres entwickelte schon früh - in den 1960er Jahren - eigene Tests wie den "Ayres Space Test" oder den "Tactile Perception Test" und prüfte ihre Gültigkeit mit wissenschaftlichen Methoden. Dann stellte sie ihre einzelnen Tests zu einer Testbatterie zusammen, die 1972 als Southern California Sensory Integration Tests (SCSIT) veröffentlicht wurde. Diese Testbatterie war ein Meilenstein in der standardisierten Erfassung sensorischer Verarbeitungsleistungen bei Kindern und für den Standard der Befunderhebung in der Ergotherapie. Wichtig zu wissen ist, dass der SCSIT lediglich an einer kleinen Stichprobe von 250 kalifornischen Kindern normiert war. Bis an ihr Lebensende arbeitet Dr Ayres unter Mitwirkung von Zoe Mailloux an der Entwicklung einer neuen Testbatterie, in die nun auch Praxie einbezogen werden sollte. Ende der 1980er Jahren wurde der SCSIT dann durch dies neue Testbatterie, Sensory Integration and Praxis Tests (SIPT), ersetzt. Der SIPT bestand aus 17 Subtests, die eine umfassendere Bewertung von sensorischen und Praxieleistungen ermöglichten.
Der SIPT galt lange Zeit als Goldstandard der ergotherapeutischen Befunderhebung aus ASI-Perspektive. Leider wurde er vom Verlag nie neu standardisiert. (Der übliche Zeitraum für psychologische Tests ist 8-10 Jahre.)
Als Antwort auf die Notwendigkeit aktueller und kulturell relevanter Diagnostik wurde die Evaluation in Ayres Sensory Integration (EASI) entwickelt. Im Jahr 2014 tat sich eine Gruppe von SI-Expertinnen um Zoe Mailloux zusammen, der ehemaligen Forschungsassistentin von Dr Ayres, die bereits bei der Entwicklung des SIPT mitgewirkt hatte. Sie entwickelten in jahrelanger Arbeit mit vielen Vortests und unter Einbeziehung der weltweiten SI Community eine neue Testbatterie, die dem SIPT ähnlich ist, aber z.B. um die Messung der sensorischen Reaktivität erweitert wurde. Der EASI zeichnet sich durch folgende Qualitätsmerkmale aus:
- Internationale Normierung: Daten aus verschiedenen Ländern und Kulturen fließen in die Normen ein, was die kulturelle Relevanz erhöht.
- Kostengünstiges Testmaterial: der Test wird nicht über einen Verlag vertrieben, sondern kann von der einzelnen Therapeut:in selbst zusammengestellt werden.
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Kostenfreie Verfügbarkeit: Die Testauswertung ist nahezu kostenlos (50 USD Jahresgebühr) zugänglich, was die weltweite Verbreitung und Anwendung erleichtert.
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Aktualität: Der EASI basiert auf aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnissen und wurde mit modernen psychometrischen Methoden (z.B. Rasch-Analyse) entwickelt. Es ist geplant, ihn zu einem computer-adaptiven Verfahren auszubauen.
Der 2022 veröffentlichte EASI ist heute der einzige gültige Leistungstest sensorisch-integrativer Funktionen. Er ist ein direktes Verfahren, mit dem wir alle Funktionen messen können, die nach der Theorie von Dr Ayres relevant für die Betätigung und Alltagsbewältigung sind:
- Empfindlichkeit auf Reize oder Reaktivität
- vestibuläre Funktionen und Haltungskontrolle, okuläre Funktionen und bilaterale Integration
- Perzeptionsleistungen, v.a. taktil, propriozeptiv, visuell und auditiv
- Praxie in verschiedenen Aspekten
Ergänzend dazu setzen wir sensorische Fragebögen wie das Sensory Processing Measure (spm-2), das Sensory Profile (SP-2) oder den WN-FBG (nur halb-standardisiert) ein.
Für eine stichhaltige Diagnostik, die auch gegenüber anderen Fachleuten, Institutionen und Kostenträgern Bestand hat, braucht es standardisierte, reliable und valide Messinstrumente. Nur so können wir das leisten, was Ayres mit ihrer Arbeit begonnen hat: sensorische Integration nicht nur erfahrbar, sondern auch messbar und nachvollziehbar zu machen.
Für eine verantwortungsvolle und evidenzbasierte Praxis
Systematische Verhaltensbeobachtungen bleiben weiterhin ein wertvolles Instrument in der ergotherapeutischen Praxis, sei es als Ergänzung zu standardisierten Tests oder in all jenen Fällen, wo standardisierte Tests nicht eingesetzt werden können (zu junge oder zu schwer beeinträchtigte Kinder).
Die Wichtigkeit von Tests hat sich herumgesprochen, jedoch der verantwortungsvolle Umgang mit Testverfahren leider weniger. So scheint es gängige Praxis in der deutschen Ergowelt zu sein, völlig veraltete Tests - ich spreche hier von 50 Jahre alten Verfahren - einzusetzen, nur damit man auch testet. Es ist berufsethisch völlig unvertretbar, dass Therapeut:innen Entscheidungen auf der Grundlage veralteter und ungültiger Tests treffen. Diese Praxis führt nicht nur zur Rufschädigung der Ergotherapie, sondern im Einzelfall zu ungenauen Diagnosen und ineffektiven Interventionen. Die Verwendung veralteter Tests wie dem SIPT oder gar dem SCSIT wirft ethische Bedenken auf und untergräbt die Glaubwürdigkeit der Berufsgruppe.
Mit dem EASI steht uns eine kostengünstige, weltweit einsetzbare, zeitgemäße Lösung zur Verfügung, die den aktuellen Anforderungen an eine evidenzbasierte und ethisch verantwortungsvolle Praxis gerecht wird. Ohne diesen Test - und möglicherweise zukünftige gleichwertige Testverfahren - ist es kaum möglich, sensorisch-integrativen Grundlagen von Handlungsfähigkeit und Alltagsbewältigung präzise zu erfassen und und aus einem stichhaltigen Befund effektive und individuelle Interventionen zu planen.

Das einzige Material, das du für den EASI kaufen musst, sind die 3D-gedruckten Formen für die taktilen Tests. Für EASI-Kurse im deutschen Sprachraum kannst du sie hier im GSIÖ-Webshop bestellen! Alle anderen Materalien sammelst du im Alltag.
Wie kannst du den EASI lernen?
Den EASI anzuwenden erfordert viel Übung - immerhin handelt es sich um 20 verschiedene Tests. Dazu hat der Eigentümer und Entwickler des EASI, CLASI aus Kalifornien, eine zweiteilige Schulung entwickelt:
- Teil 1 ist ein Webinar, bei dem du im Selbststudium anhand von Videos und Quizzes die 20 Tests kennenlernst und übst.
- Zu Teil 2 kommen wir in Person zusammen und die Kursteilnehmer üben mit Übungspartner:innen weiter, bekommen Feedback, klären ihre Fragen und entwickeln erste Routine in der Durchführung der Tests.
Die gesamte Schulung und die Testunterlagen sind auf Deutsch. Termine und Preise in Deutschland, Österreich und Schweiz findest du HIER.
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