Paulis Eltern stehen - wie viele andere auch - vor der Herausforderung, dass ihr Fünfjähriger beim Essen wählerisch ist. Jede Mahlzeit wird statt der schönen Familienzeit zu einem Streit über jeden Löffel und jeden Bissen. Pauli isst am liebsten täglich dasselbe, wobei dieses Lieblingsessen periodisch wechselt. Es scheint, als ob er sich nach einiger zeit davon abgegessen hat. Seine Mutter meint, sie könne die Speisen, die Pauli ohne Kampf isst, an einer Hand abzählen.
Die Frage, die sich vielen Eltern von schwierigen Essern stellt: ist das Kind einfach heikel oder handelt es sich schon um eine Essstörung? Therapeut:innen wie Ergotherapeut:innen und Logopäd:innen, Kinderärzt:innen und Psycholog:innen sind oft nicht auf dieses Thema spezialisiert und können daher nur allgemeine oder subjektive Einschätzungen und Empfehlungen geben.
Die Kinderpsychologin Dr. Kay Toomey hat sich jahrzehntelang mit der Frage beschäftigt, wann es sich um eine normale Phase handelt und wann es zu einem ernstzunehmenden und behandlungsbedürftigen Problem wird. Sie hat klare Kriterien entwickelt, wie wir zwischen einem „heiklen Esser“ und einem „problematischen Esser“ unterscheiden können. Und zwar gibt es 4 Faktoren, in denen sich heikle Esser von Kindern mit eine Essstörung unterscheiden:
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Anzahl der akzeptierten Lebensmittel:
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Heikle Esser akzeptieren in der Regel mindestens 30 verschiedene Lebensmittel.
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Problematische Esser haben ein sehr eingeschränktes Repertoire von weniger als 20 Lebensmitteln.
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- Umgang mit neuen Lebensmitteln:
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- Heikle Esser tolerieren neue Lebensmittel auf dem Teller und sind oft bereit, sie zumindest zu probieren.
- Problematische Esser reagieren auf neue Lebensmittel mit starkem Widerstand, wie Weinen oder Verweigerung
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Vielfalt an Nährstoffen und Beschaffenheiten:
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Heikle Esser essen mindestens ein Lebensmittel aus den meisten Nährstoff- und Texturgruppen.
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Problematische Esser lehnen ganze Kategorien von Lebensmitteln oder Texturen ab.
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Dauer des selektiven Essverhaltens:
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Heikle Esser zeigen dieses Verhalten meist weniger als zwei Jahre.
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Problematische Esser weisen über einen längeren Zeitraum persistente Essprobleme auf.
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Paulis Eltern trafen zu ihrem Glück auf eine Therapeutin, die sich im SOS Approach to Feeding weitergebildet hatte. Sie konnte ihnen dadurch eine klare Antwort geben: bei genauerer Analyse zeigte sich, dass Pauli ca. 35 verschiedene Lebensmitttel/Speisen aß. Sein ablehnendes Verhalten dem Essen gegenüber war auch erst ca. mit 3 1/2 Jahren aufgetreten. Die Therapeutin erklärte den beiden, dass Pauli nach den Kriterien des SOS Approach to Feeding als heikler Esser einzustufen sei – nicht als Kind mit einer Essstörung. Das war für Paulis Eltern eine enorme Erleichterung.
Was der Therapeutin zusätzlich auffiel: Pauli zeigte nicht nur beim Essen Auffälligkeiten, sondern war auch im Spiel mit verschiedenen Materialien wählerisch, lehnte bestimmte Kleidungsstücke vehement ab, und suchte nur selten und sehr kurzzeitig zärtlichen Körperkontakt zu seinen Eltern. Diese Beobachtungen ließen auf Probleme der sensorischen Integration schließen. Deshalb wurde veranlasste die Therapeutin eine ergotherapeutische Befundung aus der Perspektive von Ayres' Sensorischer Integration (ASI®) bei einer spezialisierten Ergotherapeutin. Dabei stellte sich heraus, dass Pauli taktil überempfindlich und propriozeptiv unterempfindlich war. Das bedeutete: Bestimmte Lebensmittel, vor allem solche mit unregelmäßigen oder „quatschigen“ Konsistenzen – etwa Tomaten, kerniges Brot, Obst und Gemüse mit Kernen und Schale – fühlten sich für Pauli im Mund schlichtweg unangenehm oder sogar ekelerregend an. Und da die organisierende Wirkung des Kraftsinnes auf das Gehirn reduziert war, kam sein Gehirn schnell in einen übererregten und alarmierten Zustand.
Plötzlich ergab vieles Sinn: Paulis scheinbar „launisches“ Essverhalten war kein Machtkampf und keine extreme Trotzphase, sondern eine verständliche Schutzreaktion seines Nervensystems. Endlich hatten Paulis Eltern nicht nur einen Namen für das, was sie täglich erlebten, sondern auch eine erste Orientierung, wie sie Pauli helfen konnten, ohne Druck oder Zwang.
Nach dem SOS Approach to Feeding werden die Kinder durch spielerische Aktivitäten, bekannt als „Play with a Purpose“, schrittweise an neue Lebensmittel herangeführt. Diese Methode basiert auf einer Hierarchie von 32 Schritten, die vom Anschauen bis zum Kauen und Schlucken reichen. Die Therapeutin zeigte Paulis Eltern, wie wichtig es ist, dass das Kind zuerst mit allen Sinnen – Sehen, Spüren, Riechen, Schmecken – eine Beziehung zu Lebensmitteln aufbaut, bevor es sie in den Mund nehmen kann.
Paulis Eltern veränderten allmählich ihre Sichtweise, wie Mahlzeiten zu sein hatten. Anstatt Pauli zum Probieren zu zwingen, lernten sie, ihm auf spielerische Weise neue Lebensmittel anzubieten – ganz ohne Erwartung, dass er sie gleich essen musste.
Parallel dazu startete Pauli eine Ergotherapie nach ASI-Ansatz, bei der an seiner Toleranz für verschiedene Sinneseindrücke garbeitet wurde und sein Gehirn unterstützt wurde, zu intensive Reize besser zu unterdrücken. Auch hier lernten Paulis Eltern, sein Verhalten richtig zu verstehen und statt es als "brav" oder "schlimm" einzuordnen, vielmehr nach dem "Warum" zu fragen. Sie lernten, ihre "sensorische Brille" aufzusetzen und zu überlegen, ob Paulis taktile Überempfindlichkeit oder seine Reizsuche nach Kraftreizen die Ursache von störenden Verhaltensweisen waren. Wenn das der Fall war, gingen sie ganz anders mit ihm um als früher und die Familiensituation entspannte sich merklich.
Ein besonders einprägsamer Moment war, als Pauli in einer der SOS-Sitzungen rote Paprika zu einem Autowaschstraßen-Spiel umfunktionierte. Die Paprika waren dabei die „Auto-Bürsten“, die vorsichtig über ein Spielzeugauto gerollt wurden. Niemand sprach vom Essen – und doch machte Pauli in diesem Moment einen wichtigen Schritt: Er berührte ein neues Lebensmittel, ganz freiwillig.
Zu Hause begannen Paulis Eltern, solche spielerischen Elemente in ihre Mahlzeiten zu integrieren. Der Druck ließ nach – und mit ihm auch die täglichen Kämpfe am Tisch. Es war kein schneller Prozess, aber mit der Zeit zeigte sich eine Veränderung: Pauli war neugieriger geworden. Zwar spuckte er Neues anfangs oft noch aus, aber er traute sich, es in den Mund zu nehmen. Und manchmal blieb sogar ein kleiner Bissen drin.
Mit der Unterstützung der Therapeutinnen lernten die Eltern, Paulis Fortschritte in kleinen Schritten zu sehen. Sie verstanden nun, dass jede Annäherung an ein neues Lebensmittel und ein neues Kleidungsstück ein Erfolg war, nicht nur das Essen selbst.
Rückblickend sagen Paulis Eltern heute, dass nicht nur ihr Sohn, sondern auch sie selbst eine Entwicklung durchlaufen haben. „Wir dachten immer, wir müssten ihn zum Essen bringen – und dabei hatten wir ganz übersehen, dass Pauli uns eigentlich gezeigt hat, was er braucht“, erzählt seine Mutter. „Durch die Begleitung mit dem SOS Approach und mit SI-Therapie haben wir gelernt, seine Signale besser zu verstehen – und vor allem: loszulassen.“
Was für Paulis Familie den entscheidenden Unterschied gemacht hat, war die Erkenntnis, dass wählerisches Essverhalten nicht automatisch krankhaft sein muss, aber sehr wohl Ausdruck einer andersartigen Sinnesverarbeitung sein kann und belastend für das Kind und sein Umfeld ist. Und dass das Kind auch Unterstützung verdient, bevor eine handfeste Essstörung entstanden ist.
Der SOS Approach to Feeding hat ihnen nicht nur eine fundierte Beurteilung der Problematik geliefert, sondern auch einen Weg gezeigt, der alltagsnah, entwicklungsorientiert und vor allem respektvoll mit Paulis Tempo umgeht. Heute ist das gemeinsame Essen zwar noch immer nicht völlig unbeschwert – aber es ist kein Kampfplatz mehr. Sondern eine Lernumgebung. Für Pauli. Und für seine Eltern.
Frühe Intervention ist entscheidend
Es ist ein weit verbreiteter Mythos, dass alle Kinder aus ihrer wählerischen Phase herauswachsen. Leider wird dadurch wertvolle zeit verschenkt. Studien zeigen, dass nur etwa ein Drittel der Kinder ohne Intervention ihre Essprobleme überwindet. Daher ist es wichtig, frühzeitig professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, idealerweise vor dem dritten Lebensjahr.
Wie Paulis Beispiel zeigt, sind bei vielen Kindern sensorische Integrationsstörungen mit verantwortlich für das eingeschränkte Essverhalten. Eine detaillierte Abklärung der sensorischen Reaktivität und Perzeption und der Praxie sollten auf keinen Fall fehlen. So wie bei Pauli werden oft zwei Ansätze in Kombination zum besten Erfolg führen: Ergotherapie nach ASI Ansatz und der SOS Feeding Ansatz, der durch eine speziell weitergebildete Ergotherapeutin, Logopädin oder Psychologin durchgeführt werden kann.
Die Unterscheidung zwischen einem heiklen Esser und einem Kind mit einer Essstörung ist für die Lebensqualität des Kindes und der Familie entscheidend, damit frühzeitig mit der richtigen Unterstützung begonnen wird. In Kombination mit ASI® können Fachkräfte und Eltern die Kinder besser verstehen und ursächlicher behandeln.
Weiterführende Ressourcen:
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