Manche Kinder schreien plötzlich los, reißen sich die Kleidung vom Leib oder bekommen große Panik, wenn sie etwas berührt, das ihnen unangenehm ist.
Für Außenstehende wirken solche Reaktionen oft übertrieben oder „unerzogen“ – doch in Wahrheit steckt bei vielen Kindern eine andere Art, Sinneseindrücke
zu verarbeiten, dahinter.
Diese Kinder nehmen Reize wie Berührungen, Geräusche oder Bewegungen viel intensiver und störender wahr als andere. Das kann schnell zu Überforderung und Überlastung führen.
Was bedeutet sensorische Überempfindlichkeit?
Der Begriff „sensorische Verarbeitungsstörung“ klingt sehr abstrakt – doch dahinter verbirgt sich etwas ganz Konkretes:
Das Gehirn hat Mühe, Reize richtig einzuordnen und zu filtern.
Einige Kinder verarbeiten bestimmte Reize überempfindlich – sie erleben z. B. leichte Berührungen als unangenehm oder sogar bedrohlich. Das nennt man taktile Abwehr.
Typisch ist, dass sie:
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keine kratzigen oder engen Kleidungsstücke mögen,
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auf Händewaschen oder Duschen empfindlich reagieren,
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Berührungen in Gruppen (z. B. beim Anziehen im Kindergarten) meiden,
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sich plötzlich zurückziehen oder heftig reagieren, wenn man sie „nur kurz“ anfasst.
Aber auch andere Sinne können betroffen sein:
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Bewegungen können Schwindel oder Unwohlsein auslösen – etwa beim Autofahren oder Schaukeln.
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Laute Geräusche wie Staubsauger, Sirenen oder viele Stimmen gleichzeitig können zu Panik führen.
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Grelles Licht oder flackernde Umgebungen machen das Kind unruhig oder überdreht.
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Starke Gerüche führen zu Ekel oder Übelkeit.
Warum die Situation im Laufe des Tages eskaliert
Vielleicht kennen Sie das:
Ihr Kind kommt morgens gut gelaunt in den Kindergarten – aber gegen Mittag oder am Abend ist die Stimmung plötzlich gekippt.
Der Grund dafür liegt im Gehirn:
Kinder mit sensorischer Überempfindlichkeit müssen sich ständig anstrengen, Reize auszuhalten oder zu vermeiden. Das kostet Energie – viel mehr,
als wir von außen sehen.
Diese dauerhafte Belastung nennt man kumulative Reizüberforderung. Und irgendwann reicht ein winziger Anlass – und das Kind reagiert mit einem großen Gefühlsausbruch.
Nicht Trotz – sondern Reizüberflutung
Wenn ein Kind scheinbar grundlos schreit, weint, davonläuft oder sich auf den Boden wirft, steckt oft keine Absicht dahinter.
Es ist auch kein Trotz oder schlechtes Benehmen, sondern ein Zeichen, dass das Nervensystem
überfordert ist.
Man spricht hier von Reizüberflutung:
Das Gehirn ist so überlastet, dass es keine Reize mehr verarbeiten kann. Das Kind ist nicht mehr in der Lage, „vernünftig“ zu reagieren – es braucht jetzt Schutz, Rückzug und Verständnis.
Was Eltern tun können
Natürlich wünschen sich Eltern, dass ihr Kind gut durch den Alltag kommt. Aber was können Sie konkret tun?
Hier sind ein paar erste Schritte, die helfen können:
✅ Suchen Sie gezielte Unterstützung durch eine spezialisierte Ergotherapie (ET-ASI®)
Kinder mit starker sensorischer Empfindlichkeit profitieren von Ergotherapeut:innen, die nach dem Ansatz der Ayres Sensorischen Integration arbeiten.
Sie führen eine genaue Einschätzung durch und entwickeln eine individuelle Förderung. Fragen Sie ruhig nach der Zusatzqualifikation („ASI® Practitioner“) und ob mit dem EASI-Test gearbeitet wird
– das zeigt, dass Sie an der richtigen Stelle sind.
🏠 Schaffen Sie zu Hause einen Rückzugsort, an dem sich Ihr Kind sicher fühlt
Ein kuscheliger Ort mit gedämpftem Licht, festen Strukturen und wenigen Reizen kann Wunder wirken. Wichtig: Ihr Kind muss dort nicht
funktionieren – es darf einfach „sein“.
🎧 Beobachten Sie, was Ihrem Kind guttut – und schützen Sie es vor Reizüberflutung
Vielleicht hilft leise Musik, vielleicht stört schon der Fernseher im Hintergrund. Vielleicht sind Mützen oder Ohrenschützer hilfreich in lauten Umgebungen. Jedes Kind ist anders – und Sie sind
Expert:in für Ihres.
🧑🏫 Tauschen Sie sich mit Pädagog:innen aus
Erklären Sie der Lehrkraft oder Kindergärtner:in, wie Ihr Kind Sinneseindrücke erlebt – und was hilft. Kleine Veränderungen im Alltag (z. B. mehr Abstand in der Garderobe, ein fester Platz im
Morgenkreis, Pausen im ruhigen Raum) können einen großen Unterschied machen.
💬 Sprechen Sie mit Ihrem Kind über seine Empfindungen – ohne Druck
Auch kleine Kinder können oft gut ausdrücken, was ihnen unangenehm ist – wenn man ihnen zuhört und sie ernst nimmt. Statt zu sagen: „So schlimm ist das doch nicht“, lieber: „Ich sehe, dass das
für dich gerade richtig unangenehm ist – magst du mir sagen, was dir hilft?“
🌱 Haben Sie Geduld – mit Ihrem Kind und mit sich selbst
Sensorische Überempfindlichkeiten sind herausfordernd. Aber mit Verständnis, kleinen Anpassungen im Alltag und fachlicher Unterstützung können Kinder lernen, besser mit Reizen
umzugehen.
Und was dabei entsteht, ist oft nicht nur Entlastung – sondern auch eine tiefere Verbindung zwischen Kind und Eltern.